Filmtipp: »Sicario« ab 1.10.2015 im Kino

Hart an der Grenze

»Sicario« von Denis Villeneuve

Mit einem bizarren Trip ins Reich der Toten beginnt der neue, aufwendig inszenierte Film des Kanadiers Denis Villeneuve. Im gleißenden Licht der Wüste von Arizona entdeckt eine Einheit des FBI einen düsteren apokalyptischen Ort: ein Todeshaus, das bewohnt wird von den toten, halb verwesten Opfern eines weit verzweigten mexikanischen Drogenkartells. Dieser Prolog des Schreckens etabliert eine Atmosphäre des Terrors und der gänzlichen Unsicherheit. Im Drogenkrieg scheinen sämtliche Grenzen, auch die zu den letzten Tabus, überschritten zu werden.

»Sicario« ist Kriminal- und Horrorfilm, Killer-Movie und Polizei-Drama, Western und Kriegsfilm zugleich. Vor allem ist er ein Grenzfilm: ein Film über die heiße, unerbittliche Grenze zwischen Mexiko und den USA, zwischen dem Schwellenland und der Industrienation, zwischen Chaos und Ordnung und darüber hinaus über die Grenze zwischen Gut und Böse. Wenn Villeneuve und sein Kameramann Roger Deakins das überwältigende Grenzgebiet zwischen El Paso und Juarez mit der Kamera förmlich abtasten und als vages Terrain der Gegensätze und Schattierungen darstellen, wird deutlich, dass diese Grenze, über die Drogen und Menschen, Träume und Sehnsüchte geschmuggelt werden, als Sinnbild erscheint für die großen Probleme unserer Zeit.
Denis Villeneuve, seit seinen frühen kanadischen Filmen ein Regisseur der poetisch-moralischen Vielschichtigkeit, hat die Heldin des Films als starke, aber auch stark zweifelnde Frau gezeichnet. FBI-Agentin Kate Macer, die bei der Entdeckung des Todeshauses am Anfang gleichsam in die Hölle geschaut hat, ist eine besessene Kämpferin gegen die Übermacht des Verbrechens. Als sie einem US-Sonderkommando zugeteilt wird, das mit allen Mitteln einen Kartellboss aus dem mexikanischen Juarez entführen soll, werden aber ihr Körper und ihr Gewissen zur Grenzzone, in der Fragen nach Recht und Rache, nach Gerechtigkeit und Genugtuung physisch verhandelt werden. Emily Blunt, die einfach alles kann zwischen Romantik, Komödie und Drama, spielt in eindringlicher Weise diese Agentin der Moral.
Der halboffizielle Schmuggel des Kartellbosses aus Juarez ist von Villeneuve meisterhaft inszeniert: als militärische US-Aktion in Mexiko, die durchaus auch im Nahen Osten oder Afghanistan stattfinden könnte. Der Krieg tobt also direkt vor den Toren Amerikas. Die detaillierte Komposition der Action-Sequenz zeigt auch, dass die Zone zwischen El Paso und dem höllischen Juarez aus einem Geflecht von Paralleluniversen und Unterwelten besteht. Sowohl die amerikanischen Gesetzeshüter wie auch die mexikanische Polizei leben von Täuschungen. Beinahe jeder in »Sicario« lügt oder belügt sich selbst.
Die zwei wichtigsten Männer im mysteriösen US-Sonderkommando, denen Kate Macer mit mehr Skepsis als Bewunderung gegenübersteht, sind zum einen Matt Graver, den Josh Brolin als wahren Cowboy spielt, der pragmatisch und rücksichtslos den Kampf gegen das Kartell organisiert, und dann die geheimnisvollste Figur des Films: Alejandro, ein Lateinamerikaner in Diensten der USA. Bei ihm ist jegliche Lebenskraft in Morbidität umgeschlagen, ein Somnambuler, ein Verdammter, der die banale Fratze des Verbrechens erkannt hat. Einer, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt scheint. Ein Retter und Verderber, ein Grenzgänger zwischen  Realität und Jenseits, ein ›sicario‹, ein Attentäter, als letzte, zwielichtige Waffe eingesetzt. Dargestellt wird er grandios von Benicio Del Toro, dem die ganze Passion und Melancholie Süd- und Mittelamerikas in den Furchen seiner Gesichtslandschaft eingeschrieben ist.
Villeneuves sonnendurchfluteter Film endet mit einer unglaublichen Verfolgungsjagd und einem ultraharten Showdown, der an ein Drama von Shakespeare erinnert. Dabei tritt das Böse hinter biederem Familienglück in Erscheinung, und der Gute ist längst zum gnadenlosen Killer mutiert im Kampf gegen ein pervertiertes Kapital. »Sicario« ist ein verstörender Film der Grenze, in seiner schmerzlichen Grausamkeit manchmal an die filmische Philosophie eines Jean-Pierre Melville oder an Orson Welles und seinen »Touch of Evil« erinnernd.

Hans Schifferle
SICARIO
von Denis Villeneuve, USA 2015, 121 Min.
mit Emily Blunt, Benicio Del Toro, Josh Brolin, Victor Garber, Jon Bernthal, Daniel Kaluuya
Thriller
Start: 01.10.2015

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