Fernando Aramburus großer Roman »Patria«

Die spanischen Basken, die ETA, der Terror und mittendrin zwei Familien

Ein wirklich dickes Ding. Fast achthundert Seiten. Und: eine Wucht dazu. Eine Geschichte, die gut dreißig Jahre umfasst. Der Terror der ETA und die Folgen für die Menschen, die nur ein ganz normales Leben führen wollten. Packend erzählt, raffiniert konstruiert. Nicht ganz einfach zu lesen. Am Anfang scheint es schwierig, in diesen immer wieder stockenden, unterbrochenen, immer wieder neu ansetzenden Erzählfluss hineinzukommen. Aber bald wird es noch viel schwieriger, sich davon wieder zu lösen.
Über fünfzig Jahre lang wurde Spanien vom Terror der ETA erschüttert. Attentate, Morde, Entführungen. Über achthundert Menschen fielen diesem Terror zum Opfer. Die »Euskadie Ta Askatasuna« (ETA), der baskische Name für »Baskenland und Befreiung«, wurde 1959 gegründet. Im gleichen Jahr, in dem der Autor, Fernando Aramburu, geboren wurde.
Der Norden Spaniens, das Baskenland, fühlte seine Sprache und seine kulturelle Identität bedroht und wehrte sich gegen die zentralistische Franco-Diktatur. Erst 2011 gab die im Untergrund agierende ETA ihre Waffen ab. Das Buch beginnt mit der Ankündigung der »Bande«, das Morden auf- und die Waffen abzugeben. Doch es kommt zu keiner wirklichen Versöhnung. Die tiefen Wunden bleiben.
Zu Beginn des Romans sitzt Bittori am Grab ihres Mannes Txako, der vor zwanzig Jahren ermordet wurde. Sie ist an den Ort zurückgekehrt, den sie damals verlassen musste, weil sich die Täter und ihre Sympathisanten als Opfer aufspielten. Jetzt sind die Dorfbewohner empört über ihre Rückkehr. Bittori aber will endlich Gewissheit. Wer war der Mörder? Sie weiß es noch immer nicht. »Ich muss es unbedingt wissen, um mit mir selbst ins Reine zu kommen, mich hinsetzen zu können und sagen: Gut, es ist vorbei.«
Bittori ist, wie ihre Freundin Miren, in einem Dorf in der Nähe von San Sebastian aufgewachsen. Beide haben Männer aus dem Dorf geheiratet, Kinder bekommen. Die Familien sind eng miteinander befreundet. Ihr Mann Txako, ehrgeizig, pfiffig, hat es durch eigene Arbeit zu einem kleinen Fuhrunternehmen gebracht, und damit auch zu bescheidenem Wohlstand. Etliche Leute aus dem Dorf haben bei ihm Arbeit gefunden. Joxian hingegen, Mirens Mann, ein schlichteres Gemüt, arbeitete zwar auch viel, blieb aber sein Leben lang Stahlkocher. Die Männer fahren gemeinsam Radrennen, spielen zusammen Karten. Txako, der Unternehmer, wird allerdings von der ETA erpresst, die immer mehr Geld von ihm fordert, bis er schließlich weitere Zahlungen verweigert, mit erheblichen Konsequenzen. Seine eigenen Arbeiter beschmieren sein Büro mit Parolen wie »Txako – Spitzel, Ausbeuter, Denunziant«. Als Mirens Sohn Joxe Marie seine Lehre abbricht und in den Untergrund geht, zerbricht endgültig die Freundschaft der beiden Familien. Miren unterstützt blind ihren Sohn, sie ist »aus Mutterinstinkt heraus fanatisch geworden«. Der schwache Vater zieht sich lieber in seinen Gemüsegarten zurück.
In einer Vielzahl von kleinen Kapiteln, meist nur vier, fünf Seiten lang, entsteht ein Kaleidoskop der Familien, mehr noch der spanischen Geschichte der letzten fünfzig Jahre. Aus diesem Bilderreigen entwickeln sich Lebensgeschichten. Die Kinder der beiden Familien werden in die Geschichte hineingezogen, sie werden Täter und Opfer, meist beides zugleich. Alle sind betroffen, zumal der Terror der ETA mit dem Terror des faschistischen Franco-Systems verknüpft ist. Die spanische Polizei, oft genug Opfer von Anschlägen, kennt viele Möglichkeiten, sich an den Tätern und nicht selten auch an Unschuldigen zu rächen. Immer wieder wechselt Aramburu die Perspektive, arbeitet mit Rückblenden und ebenso mit Vorgriffen auf das künftige Geschehen. Dieses komplexe, scheinbar komplizierte Verfahren macht, wie gesagt, den Einstieg schwierig, die Lektüre dagegen zu einem faszinierenden Erlebnis. Ergreifende Lebensgeschichten werden uns in ihrer Tragik, aber ebenso in ihren Glücksmomenten, nahegebracht, immer auf dem Hintergrund der spanischen Geschichte des letzten Jahrhunderts.
Ein Roman, der eine Welt erschließt. Was wir gemeinhin nur aus Zeitungsmeldungen kennen, Attentate, Verfolgungen, Verhaftungen, Mord, Folter – diese Szenerie wird hier in Lebensgeschichten übersetzt. Bereits nach wenigen Seiten entfaltet Aramburus Erzählung einen unwiderstehlichen Sog. Kenner der spanischen Literatur haben das Buch als »Ereignis« gefeiert. Zu Recht. »Patria« ist ein ziemlich dicker Brocken, aber vor allem ein großer Roman. Zu ergänzen wäre nur noch: der Autor, der aus dem Baskenland, San Sebastian, stammt, lebt seit Jahrzehnten in Berlin. Jetzt hat er seiner Heimat ein Denkmal gesetzt.

Sigrid Lüdke-Haertel
Fernando Aramburu: »Patria«. Roman.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, 768 S., 25 €

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