Ein crime-Plot, 50 Jahre später neu variiert

Ende der Unschuld

 

Ed McBains Roman »Kings Lösegeld« von 1959, mehr als 50 Jahre später von einem brasilianischen Autor wieder aufgenommen, dazwischen von einem japanischen Filmregisseur zu einem Meisterwerk geadelt, zeigt eindrucksvoll die Spannbreite, Wandlungsfähigkeit und Modernität des Kriminalroman. Edney Silvestres »Der stumme Zeuge« beruht auf einem Plot des großen Ed McBain, der einen Protagonisten der Wirtschaftswunderzeit, den Schuhfabrikanten Thomas King (sic!), mit einer moralischen Entscheidung konfrontierte: nämlich die eigene Geldverdien-Karriere zu ruinieren oder aber seine Menschlichkeit – und dabei vor sich und der Welt die Frage zu beantworten, ob denn alle Leben gleich viel wert sind. In McBains Kriminalroman »King’s Ransom« (1959) wird versehentlich der Sohn des Fabrikantenchauffeurs entführt, die Entführer aber beharren auf der gleichen Höhe des Lösegelds. Das war harter Stoff für eine hardboiled novel mit dem „87. Polizeirevier“, es war der zehnte Fall für die Cops um Steve Carella und Meyer Meyer.
Akira Kurosawa adaptierte den Roman und machte 1963 daraus einen seiner besten Filme, von Susan Sonntag ebenso wie von James Ellroy oder Martin Scorsese gerühmt, mit dem Titel »Zwischen Himmel und Hölle« (Tengoku to Jigoku / engl.: High and Low). Edney Sylvestres Variation »A felicidade é facil« erschien 2011 in Rio de Janeiro; dass der Limes-Verlag sie nun den deutschsprachigen Lesern im Jahr der Olympischen Sommerspiele von Rio zur Verfügung gestellt hat, kann man getrost als Kommentar lesen – und als ein Angebot nehmen, einen wichtigen südamerikanischen Kriminalautor näher kennenzulernen. Ich nenne so etwas kluge Verlagsarbeit. Auch Kirsten Brandts Übertragung aus dem brasilianischen Portugiesisch trägt zum Niveau des Buches bei.
Mit der vergleichenden Literaturwissenschaft ist das so eine Sache. Oft ist, was da miteinander in Relation gesetzt wird, an langem Haar herbeigezogen, oder Äpfel müssen etwas über Birnen sagen. Der McBain-Plot von 1959 wird bei Edney Sylvestre wie schon bei Kurosawa in der Substanz zu einhundert Prozent übernommen. McBains Geschichte taugt, um uns über einen Kriminalfall hinaus auch etwas über ein Land zu erzählen. Nach den USA und Japan ist das jetzt Brasilien. Wie aber erzählt wird, und was, und was die Unterschiede der moralischen Konflikte von 1959 im América do Norte und im América du Sud von heute ausmacht, das ist unbedingt die Lektüre wert. »Der stumme Zeuge« ist ein intelligentes, literarisch avanciertes, sehr sinnliches, politisch waches und in der Haltung ebenso poetisches wie lakonisches Buch. Am Ende gibt es einen Funken Humanismus, nicht aber ohne gleichzeitig die Entwicklung Brasiliens in einem harten, pessimistischen Licht zu zeichnen.
Weit von bloßer Nachahmung entfernt, findet Sylvestre – der bereits mit »Der letzte Tag der Unschuld« überzeugte – eigene und andere Gewichtungen und Perspektiven, erhellt in seinem Roman die Zustände in seinem Land und schreibt unter der Hand dabei auch die Wandlungen des globalen Raubtierkapitalismus fort. Er steigt tief in die Psyche seiner Figuren, gibt ihnen nachvollziehbare Innenleben, Ambitionen und Geschichte, entwickelt den rasanten Thriller über lange Strecken mit den Mitteln der Introspektive. Erst auf Seite 110 kommt es zu einem längeren Dialog. Die Wortwechsel sind selten und dramaturgisch perfekt gesetzt. Inneren Monolog gibt es weit häufiger. Es braucht eine Weile, bis einem die tänzerische Eleganz auffällt, mit der Silvestre die Stilformen wechselt. Spätestens dann ist man als Leser begeistert.
Der Zeitrahmen, den Sylvestre seiner Geschichte gibt, reicht von einem Montag im August, nachmittags 15.43 Uhr, bis zum frühen Morgen des nächsten Tages, 5.34 Uhr. In dieser Zeit ereignen sich die Entführung des falschen Kindes und die im Unterschied zu McBain und Kurosawa weitaus brutalere und zynischere »Lösung« des Falls. Nein, die Welt ist seit 1959 gewiss nicht besser, die Kapitalisten sind nicht menschenfreundlicher geworden. Bei Kurosawa nehmen die Cops die zweite Hälfte des Films ein, wird aus dem Drama ein Polizeifilm der Extraklasse, bei Sylvestre sind sie bloße Fußtruppe; kaum auffindbar. Entscheidungen und Medienmanipulationen werden auf ganz anderen Ebenen verabredet. Der Medienmogul Bettencourt, von der Entführung nur einen Abend lang belästigt und eine menschenverachtende »Lösung« ohne größere Umstände oder moralische Skrupel wählend, fliegt am Morgen wie geplant zu einem großen Empfang nach New York – um dort mit anderen Mitgliedern der korrupten Elite »das moderne Brasilien« zu präsentieren.
Historisch wie gesellschaftlich verortet Silvestre seinen Roman genau. Die Jahreszahl wird nie genannt, aber es finden sich welthistorische Bezugspunkte: die Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein und das grüne Licht für die deutsche Wiedervereinigung. Wir sind im São Paulo des Jahres 1990, der größten Stadt Brasiliens, fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, mitten in einem Klima allmählichen Wandels, der für Militärs wie willfährige Wirtschaft neue Seilschaften, heimliche Machtbündnisse und schlicht mehr Geschäft begründet. »Mehr Demokratie, mehr Werbekampagnen«, fasst dies Mogul Bettencourt einmal schlicht zusammen. Und wir wissen: Was da für das Jahr 1990 verhandelt wird, das war damals erst der Anfang, gewiss ist es seitdem nicht besser geworden.
Der Kriminalroman als politisches Medium erweist sich bei Silvestre als äußerst robust, sinnlich und lebendig. »Der stumme Zeuge« ist nicht nur seiner Thriller-Elemente, sondern auch seiner Gesellschaftsanalyse wegen eine überaus spannende und lohnende Lektüre. Bei McBain waren die Entführer Kleinkriminelle, bei Kurosawa war es ein die Welt hassender, nietzscheanischer Einzeltäter. Bei Sylvestre sind es Profis, Mitglieder eines ganz Südamerika umspannenden Netzwerks ehemaliger Geheimdienstleute, die viele ihrer Fähigkeiten bei der CIA oder beim US-Militär erwarben und sich seit Pinochets Niedergang als eine Kaste von Berufsverbrechern »in den privaten Sektor« orientiert haben. Im Fall Bettencourt stoßen sie zwar an eine sozusagen systeminhärente Grenze – die ganz großen Haie sollte man besser nicht angreifen, merken sie –, aber sie lernen daraus. Sylvestre liefert hier nebenbei auch eine kleine Kulturgeschichte der südamerikanischen Kidnapping-Industrie. Die größte Rückblende des Buches geht sechs Jahre zurück, nicht nur ein paar Tage und Stunden wie all die übrigen.
Rücksichtslos ist der Autor Silvestre, in seinem Heimatland ein bekannter Journalist und Fernsehmoderator, in der Benennung sexistischer Strukturen. Was er in Gestalt des Machos Bettencourt als brasilianischen Mann zeichnet, ist mehr als deutlich (verdeckt bekommt auch Coelho hier sein Fett weg). Der Ehestreit über den Umgang mit dem fremden entführten Kind (für das Toshiro Mifune bei Kurosawa die Karriere opfert) ist nicht einmal mehr »ein Machtspielchen, und zwar einfach deshalb«, wirft ihr Bettencourt an den Kopf, »weil du überhaupt keine Macht hast. Dein Designerkleid, deine Schuhe, die Frisur, die manikürten Nägel, deine makellose Haut, deine Zähne mit Porzellanüberzug, alles an dir, alles, was du bist, gehört nicht dir. Du gehörst dir nicht. Ich zahle dafür. Ich zahle für dich. Um dich zu besitzen. Um in dich einzudringen, wann immer ich will …« Er kennt auch alle ihre Namen, die sie einmal hatte, als sie noch ein Escort-Girl war. Er weiß alles über seinen Besitz. »Der Löwe liebt seine Beute.« Nur einen letzten Funken, einen allerletzten, kennt er nicht.
Und dann ist da noch, neben vielen anderen Geschichten, die der Haushälterin und die des Chauffeurs, der einst ein Offizier war, und seiner Tochter. Da ist auch der entführte Junge, mit dem das Buch begann und endet. Der Junge, der nicht lesen und schreiben kann und dennoch in ein Heft malt, überzeugt davon, seine Hausaufgaben zu machen. Da ist, das ganze Buch hindurch, wie ein Ariadnefaden des Humanismus, ein Echo des Mottos, Peter Handkes und Wim Wenders‘ »Himmel über Berlin« entlehnt, all den Niederungen, durch die man hier watet, zum Trotz.

Alf Mayer
Edney Sylvestre: Der stumme Zeuge
(A felicidade é facil, 2011). Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kirsten Brandt. Limes Verlag, München 2016. 224 Seiten, 19,99 Euro.

Ed McBain Kings Lösegeld. Krimi mit dem 87. Polizeirevier (Originaltitel: King’s Ransom, 1959). Deutsch von Gitta Bauer. Ullstein, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1980, 172 Seiten.

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