»Die Insel der besonderen Kinder« von Tim Burton

Was aus seltsamen Fotos werden kann

Der schüchterne Jacob durchlebt in einer amerikanischen Kleinstadt die Frustrationen eines durchschnittlichen Teenagers. Seine einzige Bezugsperson ist der schrullige Großvater Abraham, der dem Enkel von Kindesbeinen an skurrile Schauergeschichten von einer Insel erzählt, auf der Kinder mit besonderen Begabungen leben. Der Alte, so vermutet man, ist ein Holocaustüberlebender, der mit diesen eigenwilligen Moritaten seine Traumata zu bewältigen versucht.

Der mysteriöse Tod Abrahams verstört Jacob so sehr, dass eine Psychologin dem Vater rät, mit dem Jungen nach England zu reisen, um die Geschichten des Opas zu überprüfen. Therapeutisch gesehen, ist diese Empfehlung problematisch, doch filmisch funktioniert der Ortswechsel bestens. Der visuelle Kontrast zwischen horizontalen amerikanischen Häusern und der stilvoll verwitterten Ruine eines englischen Landhauses bebildert eine ganz eigene Zeitreise. Auf unerklärliche Weise findet Jacob sich im Jahr 1943 wieder. Unterstützt durch die sinnvoll eingesetzte 3D-Perspektive, erscheint das Landhaus nun perfekt gepflegt. Und: Es beherbergt tatsächlich jene Kinder mit den magischen Fähigkeiten – die Geschichten von einem Mädchen, die das Gesetz der Schwerkraft außer Kraft gesetzt hat, und einem Jungen, der mit einem Bienenschwarm in seinem Körper lebt, sind also wahr!
Was nach einer Mischung aus »Harry Potter« und »X-Men« klingt, ist der gelungenste Tim-Burton-Film seit langem. Wie Willy Wonkas Schokoladenfabrik die orale Phase mit all ihren Tücken verewigte, so stecken auch die »besonderen Kinder« in einer prekären Zeitschleife. Auf die Sekunde genau erleben sie die Zerstörung ihres Heims durch deutsche Bomber im Jahr 1943 wieder. Das Aufziehen der Gasmaske ist allerdings eine besondere Gaudi. Miss Peregrine, ihre umsichtige Beschützerin, hält jeweils unmittelbar vor der Katastrophe die Zeit an. Wie das täglich grüßende Murmeltier kehren die Bomben aber bald wieder zurück. Damit nichts schief geht, ist Pünktlichkeit die höchste Tugend in dieser repetitiven Welt, in der Kinder ihre Lieblingsspiele ewig fortsetzen.
Die Vorlage stammt von Ransom Riggs, der sich von einem Panoptikum seltsamer Kinderfotos inspirieren ließ, die er auf Flohmärkten sammelte. Tim Burton hat diese an Tod Brownings »Freaks« erinnernden Bilder auf seine unverwechselbare Art, die fiesen Horror mit infantilen Phantasien verknüpft, zum Leben erweckt.
Samuel L. Jackson spielt einen hinreißenden Bösewicht, der nach gescheitertem Experiment zum Monster wurde. Nur durch das Verspeisen der Augen jener besonderen Kinder kann er sich rehumanisieren. Die an E.T.A. Hoffmanns »Sandmann« erinnernde Phantasie erweist sich als Augenschmaus, im doppelten Sinn. Mit seinem Ausflug nach Blackpool, dem Mekka der Kirmes und der Gaukler, verbeugt der Film sich elegant vor Peter Chelsoms »Funny Bones«. Dank ausdrucksstarker Kindergesichter gelingt Burton eine niedliche, böse und ein wenig perverse Mixtur aus Fantasy, Horror und anrührender Coming-of-age-Geschichte. Für Kinder eher ungeeignet.

Manfred Riepe
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DIE INSEL DER BESONDEREN KINDER
von Tim Burton, USA/B/GB 2016, 127 Min.
mit Eva Green, Samuel L. Jackson, Ella Purnell, Judi Dench, Terence Stamp, Asa Butterfield
Fantasy-Abenteuer
Start: 06.10.2016

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