Der Film noir als wunderbares Buch

Bibeldicke Huldigung an die Hölle auf Erden

»In einer Welt, in der es nur Gewinner gibt, was sollen da die Verlierer tun?«, sagt Steve McQueen in Sam Peckinpahs elegischem Rodeo-Film »Junior Bonner« (1971). Film noir ist das Genre, das zugibt, dass wir Verlierer sind. Film noir, das ist: Ende des Idealismus / Realisieren der Banalität des Bösen / Das Wissen um Waffen, die unterschiedslos und massenhaft töten können / Das Zeitalter einer neuen Angst und unbestimmter Feinde/ Das neue Zeitalter des Verrats auf allen Ebenen (HUAC lässt grüßen). Film noir macht sogar das Unbehagen am Kinogehen selbst zum Thema, stellt die Gewissheiten des eigenen Mediums in Frage – kein anderes Filmgenre fordert die Wahrnehmungs- und Urteilskraft seiner Zuschauer so sehr heraus, sabotiert den einfachen Genuss. Noir als literarischer wie filmischer Ausdruck entstand in den Wurzeln nach dem Schrecken des Ersten und im Nachhall des Zweiten Weltkriegs, im Zerstieben des amerikanischen Traums (und auch anderer Träume), in Desillusionierung und Fatalismus, in einer Welt der traumatisierten Kriegsveteranen und des rücksichtslos gewordenen Überlebens.
Ein dickes Buch über Verlierer also. Dick wie eine Bibel ist diese Huldigung an die Hölle auf Erden, an das Schwarze in der Menschen- und Zivilisationsseele. Aber derart viele gute Filme zu solch schlanker Münze gibt es selten, wenn nicht nie. Beim Verlag Benedikt Taschen hat man es zur Meisterschaft darin gebracht, im kleinen, aber feinen Format und mit dazu unschlagbarem Preis-Leistungsverhältnis ehemals teure(re) Bücher als wahre Volksausgaben zu positionieren. Die Bücher werden dabei nicht einfach verkleinert und simpel übernommen: Der Vorlage folgend, wird je eine neue Dramaturgie entworfen und umgesetzt. Das Szenenfoto mit Peter Lorre aus »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« (1931) zum Beispiel, kommt jetzt als Doppelseite daher, hat eine ganz andere Kraft als vorher nur halbseitig. So ist es auch mit Rita Hayworth und Orson Welles in »Die Lady von Shanghai« (1948) und in vielen anderen Fällen. Weiter hinten im Buch sind die Filmplakate nun seitenfüllend, in der früheren Ausgabe hatten sie manchmal nur Briefmarkengröße. Auch die vielen Zitate kommen nun in größerer Schrift.
Die »Bibliotheca Universalis« ist auf mittlerweile über 100 Bände angewachsen, auf der Buchmesse war das eine beeindruckende Regalwand. Und schwer sind sie, die kleinen, oft über 600 Bilddruck-Seiten starken Bände. Gewichtig im buchstäblichen Sinne. Für »Film Noir« zeichnen Paul Duncan und Jürgen Müller als Herausgeber, zu Recht enthält die Innentitelseite den Hinweis »mit Texten von Alain Silver, James Ursini et al.« Der üppige, makellos und reichhaltig illustrierte Band ist ein gelungenes Amalgam zweier Taschen-Titel, nämlich aus dem 2004 erschienen »Film Noir« und dem 2014 herausgekommen »100 Klassiker des Film Noir«. Die wurden jetzt auf »Taschens Top 50 Noir-Klassiker« verschlankt, die allermeisten Texte aber übernommen. Als wohltuend empfinde ich, dass sich gegenüber 2014 die Lesefreundlichkeit erheblich verbessert hat. Endlich sind die Schwarzfelder mit weißer Schrift passé, ich weine ihnen keine Träne. Zwar gibt es eine Chronologie und Bibliografie, ein Film- und Personenregister wäre noch das I-Tüpfelchen gewesen. Aber bei diesem Preis und dieser Leistung darf man nicht meckern. Ein wunderbares Mitbringsel, ein Buch, das auch einer jüngeren Generation ein wichtige Filmepoche näherbringen kann.

Alf Mayer
Paul Duncan & Jürgen Müller: Film Noir, Inklusive Taschens Top 50 Noir-Klassiker von 1940 bis 1960. Mit Texten von Alain Silver, James Ursini et al. Verlag Taschen, Köln 2017. Hardcover, Bibliotheca Universalis, durchgängig illustriert. 648 Seiten, 14,99 Euro. 

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