»Das verhängnisvolle Talent des Herr Rong« von Mai Jia

Nicht Bond, sondern Borges

Wenn es im China der 1950er und später eine Entsprechung zur NSA gegeben hat und gibt, dann war und ist das die fiktive, aber nicht weit von der Wirklichkeit entfernte Einheit 701. Wie der MI5 seinen John le Carré hat und die CIA ihren Ross Thomas und Robert Littell, so gibt es in China einen Autor, der auf höchstem Niveau Spionageromane schreibt, in denen nicht ein einziger Schuss fallen muss, um Nerven- und Gehirnkitzel zu fördern.
»Das verhängnisvolle Talent des Herr Rong« ist der erste in den Westen gelangte Roman von Mai Jia (der in Wirklichkeit Jiang Benhu heißt und 17 Jahre bei einer geheimen militärischen Einheit arbeitete). Auf jeder Buchseite tritt man hier in die wundersame Welt von Kryptographen, autistischen Genies, mathematischen Rätseln, schrägsten Familiengeheimnissen und nicht zuletzt – mit wenig Blatt vor dem Mund – der chinesischen Geschichte der letzten 150 Jahre. Erstaunlich, wie offen der keineswegs dissidente, sondern in seiner Heimat höchst erfolgreiche Mai Jia »ungesunde Inhalte« verhandelt, wie er die Büro- und Technokratenwelt beschreibt, wie er seine an Jorge Luis Borges gemahnende, verschachtelte Spionagewelt ohne Patriotismus befeuert. Für Technologien, Intelligenz und Erfindungen hat er ein Faible wie Stanisław Lem das hatte, wie jener weiß auch Mai Jia das Reich der Träume, wie J. G. Ballard das der Manie, des Wahnsinns, und der Hybris erzählerisch zu erschließen.
»Kryptoanalyse ist ein Gift, das die Menschheit entwickelt hat, um die Wissenschaft zu zerstören, und eine Verschwörung gegen die Leute, die sich damit beschäftigen. Um in der Kryptoanalyse zu arbeiten, braucht man Intelligenz, aber was für eine ist das? Es ist eine teuflische Intelligenz, die dazu führt, dass jeder Erfolg, den du erzielst, andere noch durchtriebener, noch einfallsreicher und gerissener macht. Codes sind versteckte Waffen für eine Schlacht, die zu gewinnen sinnlos ist. Sie bringt keinerlei Fortschritt für die Menschheit«, heißt es in der Mitte des Buches. Reich und prall ist es – und, am überraschendsten, ein Erstlingsroman, dies aus dem Jahr 2002. Was auf die seitdem erschienenen Bücher dieses Autors noch neugieriger macht.
Wer »westlicher« Postmodernismen leid ist, kann sich hier an exquisiten Schachtelkonstruktionen erfreuen, die eine lange erzählerische Tradition in China haben. Noch ist der Protagonist nicht in Erscheinung getreten, aber keine Sorge, es wird nicht mehr lange dauern. In gewisser Weise ist er auch längst da. Sie haben ihn bloß noch nicht bemerkt. Wie ein junger Schößling in einem Reisfeld, den man unter der gut bewässerten Erde noch nicht sehen kann, spricht der Erzähler seine Leser auf Seite 29 an. Da ist man bereits Salzhändlern anno 1873 in der südchinesischen Stadt Tongzhen begegnet, war in Cambridge, traf Luftfahrtpioniere wie Gebrüder Wright und hat die ersten Dechiffrierversuche miterlebt.
Olivia Milburn, eine in Oxford studierte Professorin für Altes Chinesisch an der Universität Seoul, Spezialistin für die Wu-Dynastie, kaufte sich den wegen der Popularität des Autors wieder und wieder aufgelegten Roman 2010 in Shanghai im Airport-Shop, als ihr Flug Verspätung hatte, war begeistert, übersetzte zum Spaß einige Kapitel für ihren Vater, der im Zweiten Weltkrieg mit dem Codebrecher Alan Turning gearbeitet hatte. Daraus wurde ein Buch, das dem Autor den mit 15 Prozent vermutlich höchsten Anteil einbrachte, der je für ein chinesisches Buch im Ausland ausgehandelt wurde, dies mit dem renommierten US-Verlag Farrar, Straus and Giroux (FSG). Weitere zwanzig westliche Länder lernen Mai Jia gerade ebenfalls kennen.
»Mai Jia folgt nicht den westlichen Mustern von Polit-Thrillern, sondern inszeniert seine Geschichte multiperspektivisch, mäandernd, vollgestopft mit historischen Exkursen, viel Mathematik, Mystik, Psychologie und reinem Irrsinn«, freute sich der Krimikritiker Thomas Wörtche zu Recht in seinem »Leichenberg«. Drei weitere Romane über die Welt der Militärspionage hat Mai Jia bislang geschrieben, allesamt waren und sind sie Bestseller in China. Aus »An suan« (In the Dark) wurde eine erfolgreiche Fernsehserie (34 Folgen à 40 Minuten), aus »Feng sheng« (The Message) ein gleichnamiger Film, der ebenso reüssierte wie 2012 der Thriller »Ting seng zhe« (The Silent War), in dem es ebenfalls um die Einheit 701 geht und um einen Mann mit ungewöhnlichem Gehör. Mai Jias neuster Roman, »Whispers of the Wind«, geriet so voluminös, dass er in drei Bänden erschienen ist.

Alf Mayer (Foto: Mai Jia, © Li Xiao)
Mai Jia: Das verhängnisvolle Talent des Herr Rong (Jiemi, 2002). Roman. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2015. 352 Seiten, 19,99. Euro.

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