Das Leben der Anderen – Kleines Porträt von Ross Macdonald

Als er 1983 starb, war er Amerikas bekanntester ›crime writer‹. »Der blaue Hammer« von 1976 war sein vierundzwanzigster und letzter Roman binnen 30 Jahren, er hatte an die zwei Jahre daran gearbeitet, zahllose Revisionen gemacht, das Ende neu geschrieben. Die Erstauflage beim renommierten Verlag Alfred A. Knopf betrug 35.000 Exemplare, 33.518 gingen bereits am Erstverkaufstag über die Theke.

1976, also vor 40 Jahren, war, was Ross Macdonald mit seinen insgesamt achtzehn Lew-Archer-Romanen – angefangen 1949 mit »Reiche sterben auch nicht anders« (The Moving Target) – und einem Bündel Erzählungen etabliert hatte, noch neu und groß. Wenn wir uns heute über seine Überkomplexität mokieren, verkennt das ein wenig, was er historisch für die Kriminalliteratur geleistet, wie weit hinaus in den Gesellschaftsroman er das Feld des Genres gedehnt und abgesteckt hat. Zudem hat er dem coolen, eher zynischen Privatermittler von Hammett und Chandler eine wirkliche Seele gegeben, eine psychologische Resonanz, eine selbstkritische Introspektion, ein Bewusstsein für die Untiefen des menschlichen Zusammenseins, ein sozusagen kollektives Gewissen. Kurz gesagt: Empathie. Und, nicht zu vergessen: die Dialogfähigkeit mit Frauen. Im Guten wie im Harten. »What would you know about sex? You were looking for a mother, not a wife«, sagt eine Ehefrau in »Der blaue Hammer« zu ihrem Gatten, ein Satz, den sich bei Hammett oder Chandler kein Mann anhören musste. Zu den von Macdonald ausgeleuchteten Kavernen gehört neben vielen Folterkammern der Neuzeit auch die Ehehölle in allen Facetten. Leider fehlt hier der Platz, die Werkverschränkungen mit seiner Frau Margaret Millar auszuleuchten, die nicht nur eine grandiose Autorin war, sondern ihren Ehemann in einem wenn auch nicht einfachen Sinne stets geerdet hat. Hoch gebildet, wie die beiden waren, kannte Ross Macdonald die griechischen Tragödien vor und rückwärts. Seinen »Fall Galton« beschrieb er einmal so: »Ödipus tötet seine Vater, weil der ihn aus dem Königreich verbannt hat.«
Ross Macdonald wusste, dass die Detektivgeschichte ihre Beschränkung hat durch das, was bereits geschehen ist (er extemporierte das 1964 in dem weithin unverstandenen großen Text »Homage to Dashiell Hammett« im »Mystery Writers Annual«), und er drehte den Spieß um, machte das Meiste daraus. Die Zusammenhänge, die sein Alter Ego Lew Archer entwirrt, dienen nichts weniger als einer Deutung der Welt. Seine Bücher sind metaphysischer als Vieles in der Kriminalliteratur und sie sind Beziehungsromane ebenso wie Gesellschaftsromane.
Lew Archers ständig waches Unterscheidungsvermögen und sein hohes Reflexionsniveau dienen dem Versuch der Wahrhaftigkeit. Archer verkörpert sie. Er ist aufmerksam, macht damit uns auch achtsam, schult den Blick. »Die vor-freudianischen Frauen«, heißt es in »Die wahre Mrs. Wicherly« (1961), »wissen es alle, aber sie sprechen es niemals aus, noch nicht einmal in ihren Gedanken. Ihr ganzes Leben besteht darin, sich für Abendgesellschaften im Dschungel fein zu machen«. Archer weiß, dass wir uns maskieren, er kennt seinen Erving Goffman und dessen 1959 erschienenes »Wir alle spielen Theater. Wie wir uns im Alltag präsentieren«. Archer, dem Ich-Erzähler, ist klar: „Ich wusste, dass sie mich belog. Sie wusste, dass ich es wusste, und log weiter.“
Bei ihm geht es nicht um die Selbstdarstellung eines toughen Helden, um Selbstbehauptung durch Zynismus oder existentielle Lakonie – wobei auch Archers Dialoge Screwball-Qualität haben, allerdings nicht zum Selbstzweck -, sondern darum, komplexe Schuld- und Tarnzusammenhänge Schicht um Schicht aufzudecken. Oft wird das am Beispiel Familie & Blutsbande entwickelt, aber Oberthema ist stets die Verfasstheit einer Welt, und dies weit über Archers Südkalifornien hinaus, in der der Glaube an den Fortschritt als Alibi dient, die Sünden der Vergangenheit zuzuschütten. »Haben oder Sein?« fragt Archers Wertesystem immer wieder, es ist eine längst wieder aus der Mode gekommene, vor-utopische Haltung. Erich Fromms gleichnamiges Werk mit dem Untertitel »Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft« erschien im gleichen Jahr wie »Der blaue Hammer«.
Macdonald sucht und illustriert das Politische im Privaten, er ist kein Konservativer, kein Verteidiger des Systems oder des Materialismus. Man kann seine Bücher als ziemlich böse Bestandsaufnahmen der Wirtschaftswunderzeit lesen, als sozusagen Familienaufstellungen der kapitalistischen Gesellschaft. »Die Kehrseite des Dollars« eben, wie ja eines seiner Bücher heißt (von 1965). „Küste der Barbaren“ nannte er seinen fünften Lew-Archer-Roman, der Mythos Kalifornien hatte bei Macdonald immer schon tiefe Risse. Seinem Geburtsland Kanada entfremdet, wühlte er sich wie zum Ersatz tief in den südlicher gelegenen Sonnenstaat. »Ich kann den Schmutz an Ihnen riechen«, bekommt Archer im »Blauen Hammer« gesagt, »den Dreck von anderer Leute Geheimnissen.« Einer der in diesem Buch von der Vergangenheit gequälten Protagonisten liest Freuds 1904 erschienene Schrift »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, deren Untertitel: »Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum«. Das Hotel, in dem eine Protagonistin wohnt, heißt »Monte Cristo« – tatsächlich ist im »Blauen Hammer« ein Rächer mit verborgener Identität unterwegs. Talente und Identitäten wurden vertauscht, Ehefrauen und Geliebte deckten das, andere haben gelogen oder eigene Süppchen gekocht. Um verkrüppelt zu sein, muss man nicht unbedingt ein Kriegsveteran sein, wie einer der Väter das hier ist, da gibt es auch die Überlebenden anderer Konflikte.
Das Prinzip der Romane von Kenneth Millar / Ross Macdonald ist die Rückkehr des Verdrängten: Dass wieder zu Tage tritt, was begraben, vermisst, versteckt, verleugnet, vergessen war – Menschen, Informationen, Beweise, Blutsbande, alte Schuld und alte Verbrechen, verlorene Liebe manchmal. Oft wurde Vertrauen missbraucht, teils über Generationen, sei es zwischen Eheleuten, Kindern und Eltern, manchmal Patienten und ihren Ärzten. Amerikas gewaltsame Geschichte findet bei ihm eine Spiegelung im Privaten. Wovon er erzählt, das schlägt sublim sogar Wunden in die Landschaft. (Arno Schmidts Studie über die Landschaft bei Karl May lässt grüßen.)
Ross Macdonald wird oft ein wenig als ein Schüler Freuds abgetan. Sein Satz, »Freud hat unsere moralische Sicht vertieft und sie für immer ambivalent gemacht«, aber geht weiter: »Während die Psychoanalyse und ihre verwandten Disziplinen meine Denkweise beeinflusst haben, hoffe ich aber doch zutiefst, dass die in der Literatur von Sophokles bis Kafka artikulierten Visionen von Mitleid und Schrecken als meine tiefsten Quellen anerkannt werden. Freud hat unsere moralische Sicht vertieft und sie für immer ambivalent gemacht, aber es war Shakespeare, der schrieb: ›Die Götter sind gerecht, und machen aus unsern wollüstigen Verbrechen Werkzeuge, uns damit zu peitschen.‹«

Alf Mayer
Im Diogenes Verlag sind viele der Romane von Ross Macdonald greifbar. Neu übersetzt erschienen ist dort zum Beispiel: »Der blaue Hammer« (The Blue Hammer, 1976). Dt. von Karsten Singelmann. Zürich: Diogenes, 2013. 417 Seiten, Broschur, 14,90 Euro.

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