Das Gute im Mann

tr-sweet-charity-mcbrideEnglish Theatre zeigt »Sweet Charity«

Immer wenn es Herbst wird und die Bäume in der Gallus-Anlage sich indian-summer-mäßig verfärben, röten sich auch vis-a-vis-im English Theatre die Gesichter. Die Musical-Zeit bricht an, es herrscht Aufregung pur. Schließlich liegt die Latte, die es nach »Spring Awakening« (2010/2011) und »Tommy« (2011/12) zu nehmen gilt, nicht mehr weit unter der Decke.

Doch mit »Sweet Charity« präsentiert die größte englischsprachige Bühne Kontinentaleuropas ein Stück, das höchsten Erwartungen weckt – und erfüllen sollte.

Denn erstens wird die gefeierte Version von Bob Fosse gezeigt, der auch »Cabaret« und »Chicago« produziert hat. Seit ihrer Premiere 1966 zählt sie zu den Top-Shows in London und New York. Bisher 20 Mal wurden das Stück und seine Interpreten für den Hollie-Award nominiert, fünf Mal bekamen sie ihn.

Zweitens zeichnen mit Ryan McBryde und Thomas Lorey der Erfolgsregisseur und der musikalische Leiter der Rekord-Musicals der beiden vergangenen Jahre wieder verantwortlich. Insbesondere McBride weiß seinen Arbeiten immer einen sehr spezifischen Touch zu geben und hat dafür aus dem immensen Angebot der britischen Hauptstadt bisher noch immer die richtigen Interpreten gecastet.

Und drittens ist die auf Frederico Fellinis »Die Nächte der Cabiria« fußende Geschichte mit dem Cy-Coleman-Superhit »Hey, Big Spender« sowie »The Rhythm of Life« längst Legende und wie für das am Rande des Bahnhofsviertels residierende English Theatre gemacht. Die herzzerreißende Suche des Animiermädchens Charity Hope Valentine nach dem richtigen Mann und der großen Liebe könnte durchaus in der unmittelbaren Nachbarschaft des Rotlichtmillieus spielen, auch wenn es eine vergleichbar softe Variante ist. Sweet Charity geht gegen einen kleinen Obolus mit Männern lediglich auf das Tanzparkett, dabei aber so manchem auf den Leim. Das Mädchen schlittert mit einer Herzenstiefe, der man sich nicht entziehen kann, von einer Katastrophe in die nächste, ohne ihren Glauben an das Gute im Mann zu verlieren. Ryan McBryde, der bei der Rock-Oper »Tommy« schon mit einem recht offenen Ende überraschte, will mit »Sweet Charity« das durchaus verbreitete Phänomen der Vereinsamung des Menschen in der Großstadt thematisieren. Daß Ian Vigo nicht nur den täppischen Oskar, den Charity im Aufzug trifft, sondern auch den Filmstar Vittorio Vidal und weitere Herren verkörpert, läßt in Anbetracht des eingesetzten Großensembles nur den Schluß zu, daß bei McBryde der miese Mann im Mann immer der Gleiche ist.

Winnie Geipert

 

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