Charly Wellers »Finsterloh«

Heimat von unten

Es im Leben zu etwas gebracht hat man erst, wenn man bei Gref-Völsing auf der Hanauer Landstraße in Frankfurt mit Namen begrüßt wird, sinniert Kriminalhauptkommissar Guido Retzlaff, der sich in dieser »höchstens 30 Quadratmeter großen Kathedrale urbaner Mittagsverköstigung mit verschärfter Rindswurstaffinität« zum Austausch von Erkenntnissen mit Kollegen aus Gießen trifft. Mit dabei, Kommissar Roman Worstedt, hinter seinem Rücken »Kommissar Worschtfett« gerufen, den wir samt seiner »manischen« Wurzeln schon aus Charly Wellers Erstling »Eulenkopf« kennen.
Mit manisch-depressiv hat das nichts zu tun, sondern mit einer bis heute erhaltenen Räubersprache, die man in Gießen »Manisch« nennt. Diese Überreste jenisch-rotwelschen Ursprungs waren ein Verständigungsidiom unter Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subkulturen. Irgendwann auch von Schaustellern übernommen, erkennt man das Manische daran, dass der Ton von einer gewissen nasalen Atemnot unterlegt ist und die »Os« lang gezogen werden.
Die Polizisten, die sich da auf der Hanauer treffen, wissen natürlich, dass in den weißen Tassen bei Gref Völsing kein Kaffee serviert wird, sondern dass die Rindsbouillon darin Bestandteil eines jeden der vielen hundert »Gedecke« täglich ist, wie sie samt einer auf Pappe servierten kesselfrischen Rindswurst mit Senf und Wasserweck unermüdlich über die Theke gereicht werden. Als Einheimischer kann Retzlaff es sich nicht verkneifen, seinen Kollegen gegenüber einen Scherz über die »Metzgerei Mathias, Stiftstraße 78« machen, was Gelegenheit gibt, zu Frankfurts interessantestem Mordfall zu schweifen, kaufte dort das »Mädchen namens Rosemarie« doch bevorzug frische Leber für ihren Pudel und wurde dort am Nachmittag des 29. Oktober 1957 zum letzten Mal lebend gesehen. Eines der Beweisstücke im Nitribitt-Fall spielt in Charly Wellers neuem Kriminalroman eine Rolle, nämlich jener auf der Garderobe der Edelprostituierten vorgefundene Herrenhut, der, wie sich herausstellte, dem stellvertretenden Frankfurter Polizeichef gehörte und dann in den Akten und den Asservaten spurlos verloren ging.
Überhaupt die Vergangenheit, sie ist allgegenwärtig in »Finsterloh«. Entweder werden die Protagonisten von ihr eingeholt, oder sie werden darauf geschubst. Charly Weller hat den Bogen heraus, wie er all diese Seitenlinien miteinander verknüpft und die Exkurse nicht wie Belehrungen aussehen lässt oder zusammengestauchte Wikipedia-Artikel. Mit Lust pflegt er die Kunst der Abschweifung. Man könnte auch sagen: Die Reise ist das Ziel. Am Ende hilft Kommissar Zufall bei der Auflösung des Falls, aber man hat in viele interessante Ecken geschaut.
Wie bereits in »Eulenkopf« erfolgreich vorexerziert, wird »Finsterloh« als Perlenreihe von Zeugenaussagen erzählt, sie alle steuern einer Lösung des Kriminalfalls zu, führen aber auch auf gehörig viele falsche Fährten. Es sagen aus: Bewohner, Leitung und Personal eines Altenheims in Gießen, pardon, einer Seniorenresidenz, Taxifahrer, Gastwirte, Metzger, Gerichtsmediziner, ein Wahrsager, eine Vorleserin, ein Diabetologe, ein Musikhausbetreiber, eine Fahrstuhlprüferin und viele mehr. Der mit sieben Stichen ermordete Tote war Chemiker und Stahlhändler gewesen. Dass dessen Bruder einst in der Fremdenlegion war, gibt Anlass zu einem heftigen Einstieg. Das ganze Buch hindurch entsteht nebenbei so etwas wie eine kleine Sittengeschichte der Legion. Weller mit seinem Auge für Details erzählt zum Beispiel von einer perfiden Schinderei, bei der es stets galt – »Wir lassen niemanden zurück!« –, einer Zigarettenkippe ein ehrenhaftes Begräbnis im harten Wüstenboden zu geben, das Loch mannsgroß und ordentlich tief. Ehe das nicht erledigt war, gab es keinen Schlaf. Wir erfahren, was es mit der »Blutwurst«-Hymne der Legionäre auf sich hat, warum – Stichwort Wüstensand – die Legionäre bei Militärparaden mit 88 statt der üblichen 110 Schritte per Minute marschieren und warum sie dabei Äxte und Lederschürzen tragen.
Die Bandbreite dessen, wofür Charly Weller einen als Leser zu interessieren vermag, reicht von Franz Werfels »Tod eines Kleinbürgers« (1927) als Vorlage für Mordmotive, dem Akkordeon Tango IM von Hohner und dem Zigeuerjazz von Häns’sche Weiss, dem Wert alter Glühbirnen (heute wertvoller als Gold), einer Karriere mit Spielautomaten bis zur französischen Besatzung Algeriens, den Harkis in Algerien und zu einer politischen Fußballgeschichte dieses Landes. Natürlich gehört bei einem so erkennbar am guten Leben interessierten Autor auch ein Exkurs über die beste Blutwurst dazu. Oder ein Hinweis auf das Cafe Vinyl in Wetzlar, wo sie eine Riesensammlung von Langspielplatten, eine super Musikanlage und den besten Sound weit und breit haben.
Der titelgebende Ort Finsterloh ist ein heruntergekommenes Gelände am Stadtrand von Wetzlar, einst ein ehemaliges Sammellager für Juden, danach eine nahezu gesetzesfreie Zone für fahrendes Volk, für Schausteller und Altwarenhändler, Kohlenausträger, Maronenbrater, Scheren- und Messerschleifer, Kesselflicker, und der Un-Ort für das alle drei Jahre stattfindende »Ochsenfest«.
Nach »Eulenkopf« in Gießen nimmt Charly Weller sich hier wieder ein Stück dreckige Provinz vor. Seine Kriminalromane sind ein Stück Heimatkunde von unten. Da ist einer, der herumgekommen ist, viel fürs Fernsehen gearbeitet hat, nun in der Region seiner Geburt zurück und rollt sie jetzt lustvoll auf.
Kapitel 2 enthält eine Verbeugung vor Fred Prase und seinem Buch »Feuerteich« von 1989. Für Nicht-Insider: Dieser leider viel zu früh verstorbene, leidenschaftliche Polizist und wunderbarer Freund, für die, die ihn kannten, fotografierte in »seinem« Revier, dem Frankfurter Bahnhofsviertel, schrieb klug und sinnlich über seine Arbeit. Sein Buch ist ein ziemlich einzigartiges Dokument. Dass Weller ihn zitiert, ist mindestens ebenso programmatisch wie das aus Thomas Pynchnons »V« entlehnte Motto, in dem es um das Sehen, die Zeit und die Zusammenhänge geht.

Alf Mayer
Charly Weller: Finsterloh. Hillesheim: KBV, 2015. 322 Seiten. 9,95 Euro.

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