»Carol« von Todd Haynes

Cineastisch verführt

Die Zeiten, in denen Hollywood Filme mit schwul-lesbischen Sujets als Risiko bewertet wurden, scheinen dem Ende zuzugehen. Waren Filme wie »Philadelphia« (1993) oder »Brokeback Mountain« (2005), die sich der gleichgeschlechtlichen Liebe im Mainstream-Format annäherten, in den letzten Jahrzehnten eher Ausnahmeerscheinungen, kommen in diesen Monaten gleich drei Dramen in die Kinos, die das Thema raus aus der Nische holen und an ein breites Publikum adressieren.

Roland Emmerich hat sich gerade in »Stonewall« den Gründungsmythos der schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung vorgenommen. Im Januar folgt Tom Hoopers Transgender-Drama »The Danish Girl«, und zuvor schlendert noch Todd Haynes lesbischer Liebesfilm »Carol« ins vorweihnachtliche Lichtspielhaus-Programm.
Haynes (»Dem Himmel so fern«) adaptiert hier den Roman »Salz und sein Preis« von Patricia High-smith, den die Autorin 1953 unter Pseudonym veröffentlichte und der Jahrzehnte später als lesbischer Kultroman gehandelt wurde. Im Zentrum ist die junge Verkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara). Mit einer Weihnachtsmütze auf dem Kopf steht sie hinter dem Tresen der Spielwarenabteilung, als die höchst elegante Carol (Cate Blanchett) ihr gegenübertritt, auf der Suche nach einem Geschenk für ihre vierjährige Tochter. Therese ist fasziniert von dieser mondänen Erscheinung, und Haynes lotet die erotisch aufgeladene Erstbegegnung mit subtilem Feingefühl aus.
Carols Handschuhe bleiben auf dem Tresen liegen, werden von Therese per Post nachgesendet, und eine sich langsam vortastende Liebe bahnt sich ihren Weg. Für die junge, unerfahrene Therese sind diese Gefühle Neuland. Die ältere Carol hingegen weiß um die homophoben Gesellschaftsnormen der fünfziger Jahre und bekommt sie direkt zu spüren, als ihr Mann droht, aufgrund ihres Lebenswandels das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter zu entziehen. Wie schon in »Dem Himmel so fern« nutzt Haynes den historische Hintergrund der fünfziger Jahre zum einen dazu, im Kontext der repressiven McCarthy-Ära die emotionale Wirkung einer nicht gesellschaftskonformen Liebe zu erhöhen. Zum anderen lässt er auch hier erneut die Ästhetik des klassischen Hollywood-Kinos wieder auferstehen und erzählt diese Liebesgeschichte mit enormer, cineastischer Verführungskraft.
Cate Blanchett ist hinreißend in der Rolle der tragischen Femme fatale, aber auch Rooney Mara überzeugt durch ihre emotionalen Feineinstellungen. Dazu kommt eine erlesene Ausstattung und die ebenso schwelgende wie pointierte Kameraarbeit von Ed Lachman, die »Carol« zu einem außergewöhnlichen Sehvergnügen machen.

Martin Schwickert
CAROL
von Todd Haynes, GB/USA/F 2015, 118 Min.
mit Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler, Cory Michael Smith
Drama
Start: 17.12.2015

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