Botho Strauß erzählt von seiner »Herkunft«

Botho Strauß: HerkunftDas Buch des Sohnes

Im letzten Monat ist er siebzig geworden. Zu diesem Anlass hat Sebastian Kleinschmidt, der langjährige Chefredakteur von »Sinn und Form« ein »Gedankenbuch« von Strauss zusammengestellt, das Reflexionen, lakonische Bemerkungen, pointierte Beobachtungen, eine Art von Aphorismen, das heißt kurze Texte enthält. Wenige Wochen vorher hatte ausgerechnet Heinz Strunk (»Fleisch ist mein Gemüse“) unter dem Titel »Der zurück in sein Haus gestopfte Jäger« eine Auswahl von Geschichten von Botho Strauß versammelt. Das schönste Geschenk aber hat sich Botho Strauß selbst gemacht – mit den Erinnerungen an seine Herkunft.
1990 wäre der Vater von Botho Strauß hundert Jahre alt geworden. Im gleichen Jahr zieht seine Mutter in ein Seniorenheim um. Die Wohnung, in der die Familie vierzig Jahre lang lebte und in der Strauss als Einzelkind aufwuchs, wird aufgegeben. Das ist der Anlass für diese Erinnerungen.
Der inzwischen fast Fünfzigjährige erinnert sich mit Wehmut. »Morgen wird die Wohnung entrümpelt. Morgen wird mein Zuhause aufgelöst.«  Die Familie kam aus dem Osten, in Naumburg war der Vater, Apotheker und promovierter Chemiker, Mitbesitzer einer pharmazeutischen Fabrik. Als er 1950 enteignet wird, flieht er mit Frau und sechsjährigem Sohn erst nach Remscheid. Nach einigen Jahren zieht die Familie um nach Bad Ems. Der Vater, bei Bothos Geburt schon 54, hatte im ersten Weltkrieg ein Auge verloren, was den Jungen vor seinen Freunden ungeheuer genierte, auch fand er ihn »unzeitgemäß« , sein Deutsch häufig »überschmückt« und  die Nadel mit Perle im Krawattenknoten »affig und eitel«.  »Ich wollte meinen Vater gewöhnlicher haben, er sollte nicht auffallen, nicht vornehm sein, sondern ein schmuckloser Mensch von heute.« Der Vater hat den Sohn »zum Leser erzogen«, doch das, was er als Jugendlicher liest, oder die Musik, die er hört, gibt meist Anlass zu Auseinandersetzungen. Wenn doch einmal, zum Beispiel ein Stück von Brecht  »seine  Anerkennung fand, kamen mir die Tränen vor Glück, vor sieghafter Harmonie. Als ließe sich doch zwischen uns alles einen …!«  Der Vater schrieb ein einziges Buch »Nicht so früh sterben«, das der Sohn, genauso wie polemische Aufsätze in einer allein herausgegeben kritisch-satirischen Monatsschrift nie las. »Daß ich auf seine schriftstellerische Tätigkeit nichts gab, wird ihn besonders gekränkt haben.«  Als der Vater 1971 stirbt, geht ihm der Tod nicht nahe. »Ich war zum Vorwärtsblicken unterwegs, und die Trauer beugte mich nicht.« Der Erwachsene, der zum letzten Mal durch die Wohnung geht, »die aus jedem Winkel, jedem Gegenstand Herkunft hervorzieht«, ist erstaunt über seinen früher  »achtlosen Blick« auf die Schönheit der Landschaft, die er jetzt sieht, als er aus den Fenstern schaut.  Doch er will nie mehr zurück. »Nie hast Du Unglück so hart und pur empfunden wie in der Unruhe und Qual des Aufwachsens.« Aber der Blick zurück ist jetzt voller Respekt und Liebe, auch Dankbarkeit und er spürt plötzlich, »wie man altert trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.« In seinem Buch »Herkunft« schreibt Botho Strauss zum ersten Mal über seine Kindheit und Jugend , ein äußerst intimes Buch von einem, der bisher kaum etwas von sich preisgegeben  und sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich völlig zurückgezogen hat. Strauss lebt seit Jahren, fernab von Berlin, in einem einsamen Haus in der Uckermark. Er hat Distanz bezogen, das ist seinen letzten Büchern abzulesen. Der Blick für die kleinen Erschütterungen des sozialen Lebens ist einer allgemeineren Zivilisationskritik gewichen. Mit »Herkunft« ist der Erzähler Botho Strauß zurückgekehrt.

Sigrid Lüdke-Haertel
Botho Strauß: Herkunft
München: Hanser Verlag, 2014, 96 Seiten, 14,90 €

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