Blutige Ernte 03/2012

Verbrechen des Herzens[singlepic id=72 w=320 h=240 float=right]

Simenons »Drei Zimmer in Manhattan«

 

»Er war glücklich. Er schwamm im Glück. In einem Glück, das morgen, in einigen Tagen beginnen würde, vorerst aber in einer Angst bestand, weil er eben jenes Glück noch nicht in Händen hielt und grauenvolle Angst davor hatte, es zu verlieren«.
Francois Combe, gerade in New York angekommen, abends in einer Bar eingekehrt und dort eine Frau kennengelernt, hat sich in sie verliebt, geradezu maßlos verliebt.
»Im Grunde wußte sie immer noch nicht, daß er sie liebte. Sie konnte es gar nicht wissen, nachdem er selbst es erst vor ein paar Stunden entdeckt hatte.«  
Von ihm aus könnte alles sofort losgehen, sie aber zögert.
»Er hätte am liebsten gelacht. Es war ein wenig grotesk. Sie hinkte mit ihrer armen Liebe so sehr hinter seiner Liebe her, die sie noch gar nicht ermessen konnte und die er ihr schenken wollte«.
Endlich dann ist es so weit. Sie sind allein in einer schnell angemieteten Wohnung, drei Zimmer in Manhattan. Er gesteht ihr alles, geht auf sie zu, der lange erwarteten Umarmung entgegen.
»Und nun geriet er in Verwirrung, denn anstatt sich in seine Arme zu werfen, wie er es vorhergesehen hatte, blieb sie ganz weiß, ganz kalt mitten im Zimmer stehen«.
Müßte er fliehen und könnte er nur einen seiner Romane mitnehmen, dann wäre dies »Drei Zimmer in Manhattan«, antwortete Georges Simenon (1903-1989) auf die Frage nach dem ihm wichtigsten Buch. Es ist aus dem Jahr 1946, der Diogenes Verlag hat es nun als Band 25 seiner Simenon-Reihe »Ausgewählte Romane in 50 Bänden in chronologischer Reihenfolge ihrer Niederschrift und in revidierten Übersetzungen« wieder herausgebracht – als handliches Hardback mit Lesebändchen und dennoch schmalem Preis. In seiner Autorenpflege, das illustriert das Beispiel Simenon, arbeitet Diogenes über die Jahre und Jahrzehnte einfach vorbildlich. Die meisten seiner Bücher werden weitgehend vorrätig gehalten. Lediglich ein Teil der autobiografischen Schriften und das Abrechnungsbuch seiner Ex-Ehefrau Denise (»Le phallus d’or«) sind unübersetzt geblieben.
»Die drei Zimmer in Manhattan« trafen mich vor gut 25 Jahren wie ins Mark, in den Monaten einer damals unzureichend beantworteten Liebe – ein Simenon-Blitz sozusagen. Es war eine existenzielle Leseerfahrung. Wie ein erschreckend hellsichtiger Magier erschien Simenon mir damals, ein Gedanken- und Gefühle-Leser, dessen Erzählkraft sich an der eigenen, aktuellen Erfahrung rieb. Aber auch jenseits privater Empirie beweisen die »Drei Zimmer« exemplarisch Simenons schonungslose Beobachtungsgabe, wobei er hier zweifellos auch eigenes Erleben und Erleiden verarbeitet. Das Gefühlsdrama hat eine Entsprechung im Kennenlernen seiner zweiten Ehefrau.
Meine Wiederbegegnung mit dem Roman war weniger zwiespältig, als ich befürchtet hatte. Das Buch hat den Test der Zeit bestanden, ist zeitlos schön und lakonisch geblieben, überzeugt mit stimmiger Psychologie, straffer Erzählführung und filmreifen Dialogen. Die inneren Monologe, der Wechsel der Erzählperspektiven, das Elliptisch-Offene der Handlung sind (nicht nur für 1946) modern und filmisch. Es ist kein Kriminalroman und doch einer. Er zeigt die brüchige Innenwelt, die ebenso in Wahn und Totschlag umschlagen könnte, die Fragilität und das Risiko emotionaler Einlassung auf die Welt, die Verletzbarkeit menschlichen Seins, die Sucht und Suche nach Nähe und Wärme, die Macht von Autosuggestion und Wunsch.
Wäre es ein ebenso unprätentiös tiefgründiges Buch geworden, wenn Simenon nicht Kriminalschriftsteller gewesen wäre, ein ehemaliger Polizei- und Lokalzeitungsreporter? Ich bezweifle das. Eine evolutionäre Literaturgeschichte seiner »Helden« steht noch aus, die Tiefengeschichte all dieser mitfühlend, aber letztlich gnadenlos beobachteten Verletzbarkeiten, Sehnsüchten und kleinen Perversionen. Sein fieberhaftes Schreiben, für das er sich oft wochenlang in einem Zimmer seiner Wohnung einschloß, unterbrochen nur für Essen und animalischen Sex, hat immer auch Aspekte der Selbstüberrumpelung, der Höllentour mit dunklen Seelen. Tatsächlich hat dieser bürgerliche Autor immer wieder eben jene bürgerlichen Abgründe, Kleinmuts- und Größenwahnaktionen, Obsessionen und Selbsttäuschungen ausgelotet, die ansonsten gerne unter der Tischdecke bleiben.
»Ein Mensch wie jeder andere« nannte Simenon den ersten Band seiner insgesamt 22 autobiografischen »Dictés«. Ein Mensch wie jeder andere, das gerade war Simenon natürlich nicht. Und aber doch. Zumindest in seinen Büchern, deren Charaktere er »meine Brüder« nannte. Simenon, der Kriminalschriftsteller, transzendiert noch in den schwächsten seiner Bücher das Genre. Gewalt ist ihm nicht Vorwand oder Selbstzweck, der Schock kein Stilmittel. »Verstehen, nicht urteilen«, lautet sein Motto. Getriebene, Fliehende, Verfolgte, Unterdrückte, Ausreißer und Zauderer sind seine Figuren. »Romans-crise« oder »romans dur« nannte er seine Non-Maigret-Romane, detailreiche Beschreibungen krisenhafter Zustände, zugespitzt auf eine existentialistische Situation. Anders aber als die »noirs« von Hammett und Chandler, wo die Helden um die Härte ihrer Lage wissen und entsprechend zynisch handeln, verstehen Simenons »kleine Leute« kaum den Ernst ihrer Lage. Sie sind Objekte, nicht Subjekte ihres Dramas – und uns deshalb so nahe. So gleich. So warm. Simenon weiß um das Geheimnis des Menschseins. Rund 201 Romane unter seinem Namen hat er uns hinterlassen. »Mein Erstaunen, meine Zärtlichkeit« notierte dieser Mensch 1976 über uns Menschen »wächst gegenüber diesem ungeschützten Tier, das nicht weiß, was es ist, woher es kommt, wohin es geht«.

Georges Simenon: Drei Zimmer in Manhattan (Trois Chambres à Manhattan, 1946). Deutsch von Linde Birk. Überarbeitete Ausgabe, Zürich: Diogenes Verlag 2011. 226 Seiten. 9 Euro.

Alf Mayer

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