Begegnung mit Anne Kuhlmeyers »Drift«

Gewiss kein Mainstream

»Es regnet. Ich möchte tot sein. Oder in Amsterdam. Dann weiter ans Meer und die Atlantikküste entlang, dorthin, wo die Sonne scheint und das gute Leben wohnt.«
Ein Freitag im Juli, eine Frau alleine unterwegs. In Deutschland. Sie will in die Sonne, ist im Urlaub. Aber es regnet. Und regnet. Seit Tagen, vielleicht seit Wochen schon. Sie hat nicht darauf geachtet, Wetter war ihr nie wichtig. Aber jetzt, wo sie in Urlaub fährt, schüttet es, als hätte die Atmosphäre sämtliche Wasser über ihr versammelt und kippe sie nun auf die Straßen, die sie passiert.
Vollsperrung auf der Autobahn, sie fährt auf einer Nebenstrecke. Die Werra entlang. Mitten in Deutschland. »Der Deutsche Wetterdienst hat erneut eine Unwetterwarnung herausgegeben. Das Sturmtief Noah …«, heißt es im Radio, bevor es seinen Geist aufgibt.
Der Fluss führt Hochwasser. Eine Brücke wird weggeschwemmt, dann ein Bus. Das Wasser hat vom ganzen Tal Besitz ergriffen. Metha Engelhart, Dr. Metha Engelhart, Rechtsmedizinerin wie sich herausstellt, landet in einem seltsamen Haus am Hang: Forsthaus, Stützpunkt der Grenztruppen, Bunker, ehemals im deutschen Niemandsland. Jetzt wird es der Kulminationspunkt einer wilden, seine Leserinnen und Leser unweigerlich wegtreibenden, vielschichtigen Erzählung.
»Drift« ist dafür ein äußerst treffender Titel. Die Kategorie »Kriminalroman« charakterisiert das Buch nur ungefähr, demonstriert aber, wie breit und wandlungsfähig das Genre ist. Ein Kriminalroman ist es unter anderem, weil die Erzählung uns Leser zu Ermittlern macht. Wir sind es, die Sinn und Lösung finden können, uns Einsicht und Aufschluss verschaffen wollen.
Es ist erstaunlich, wie schnell und gründlich die Autorin Anne Kuhlmeyer den Boden ihrer Geschichte bereitet und wie ebenso schnell und gründlich sie ihn uns dann entzieht. Im Forsthaus finden sich fünf Menschen zusammen, drei weitere schaffen es nicht, der Zutritt wird ihnen verweigert. Der Erzählstrudel führt uns hinein in ihre Geschichten. Lebensentwürfe, Schicksale. Europa im Brennglas. Der Balkan, Weißrussland und der Majdan-Platz in Kiew, Minderheiten, Flüchtlinge, Migranten. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig, ja sogar so ein Thema wie Unsterblichkeit wird verhandelt. Ein ganz erstaunlicher und dabei genial einfacher Kunstgriff transportiert uns dabei in die Bücher der Weltliteratur. Die Wohnung Nr. 50 aus Bugalkows »Meister und Margarita« ist dabei, Leonardo Paduras Havanna, Heinrich Heines »Deutschland. Ein Wintermärchen«, die von den Nazis verbotene sächsische Dichterin Lene Voigt, Merle Krögers „»Grenzfall« (ebenfalls bei Ariadne im Argument Verlag erschienen).

Es macht manchmal Gänsehaut, wie souverän die Autorin Anne Kuhlmeyer – im wahren Leben Ärztin und Trauma-Therapeutin – die Erzählströme und Realitäten wechselt, wie wenig Aufhebens sie davon macht. Dieses Buch feiert nicht sich und seine Einfälle, sondern die Sprache und die Poesie, mit der sich eben wirklich alle Grenzen überwinden lassen. Am Ende ist klar: Dieses sinnlich geschriebene, realitätstüchtige Buch gehört in den Kanon der Phantastischen Literatur. Wie die großen Werke dieser Gattung (auch Salman Rushdie darf man dazuzählen) erzeugt es aus dem Alltag eine sozusagen überhitzte Atmosphäre des Unwirklichen, in der alles möglich und notwendig und sinnvoll wird, kurzum die Welt mehr Türen erhält als jede Bauordnung es vorsieht. Der Dauerregen im deutschen Sommer, Träume vom Kaffeeanbau an den Hängen der Werra, Klimawandel also, sind da nur eine kleine Ordnungswidrigkeit.
»Ein Mosaik aus Geschichte, Gegenwart, hierzulande und anderswo« nennt Verlegerin Else Laudan dieses Buch des Grenzen überschreitenden Erzählens. Es zu veröffentlichen ist eine verlegerische Tat, ja ein Programm. Neben dem Mainstream, im offenen Strom.
Platons Höhlengleichnis kam mir beim Lesen von »Drift« immer wieder in den Sinn. Menschen im Dunkel, zusammengesperrt: Den Ausgang, der sich hinter ihren Rücken befindet, können sie nie erblicken. Dieser Ausgang, das ist auch eine Metapher für unsere Gesellschaft, für das Leben zusammen und in welcher Form. »Drift« ist zu allem eminent politisch, stellt kluge Fragen. Uneingeschränkte Empfehlung.
Offenlegung: Anne Kuhlmeyer macht zusammen mit Thomas Wörtche und mir das Onlinemagazin »CrimeMag.de«. Büchern von Menschen, die ich näher kenne, gehe ich eigentlich lieber aus dem Weg. In diesem Fall bin ich froh, die Lektüre gewagt zu haben.

Alf Mayer
Anne Kuhlmeyer: Drift.
Ariadne bei Argument, Hamburg 2017. 317 Seiten, 12 Euro.

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