Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet

Botschaften eines Botschafters

Mit Autobiographien ist das so eine Sache: nicht selten kommen sie entweder als Enthüllung vermeintlicher Ruhmestaten daher, als (weinerliche) Abrechnung mit dem Leben; oder es sind selbstverliebte Darstellungen von Menschen, die sich für so bedeutsam halten, dass sie glauben, uns alle an ihrem Alltag teilhaben lassen zu müssen.
Da ist die zur Buchmesse im März dieses Jahres erschienene Schrift »Nichts ist jemals vollendet« des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor, eine wohltuende Ausnahme. Eine Autobiographie, die sich von »ein paar Worten vornweg« bis zur zukünftigen Frage des »was zu wünschen bleibt« wie ein die Augen öffnendes Kompendium über die Entwicklung Israels seit der Gründung 1948 bis heute liest.
Was den launigen, feuilletonistischen, oft auch wohltuend distanzierten Schreibstil anbelangt, trifft ebenso auf den Diplomaten und Menschen Avi Primor zu:
er schildert sich und seine dezidiert kritischen Ansichten – auch und besonders gegenüber der heutigen Politik in seiner Heimat Israel – wie mit einem Blick von außen. Es hat sicher damit zu tun, daß seine Eltern bereits drei Jahre vor seiner Geburt (das war 1935) von Deutschland ins damalige Palästina emigriert sind. Avi Primor hat insofern nicht nur die extremen Schwierigkeiten der Entstehung des Staates Israel, wie aus dem Nichts, vor Ort hautnah erlebt, sondern auch eine parallel laufende antisemitische Entwicklung in Europa (und natürlich Deutschland). Er studierte in Paris und New York – war danach als junger israelischer Diplomat in Afrika, später wieder in Europa und von 1993 bis kurz vor der Wende in Bonn. Er beschreibt hellwach, verblüffend objektiv auch die Probleme (Siedlungspolitik, Isolation nicht nur im Nahen Osten) seines Landes. Eine Politik, in die Primor sich immer wieder (noch heute) kritisch einmischt und sich damit naturgemäß nicht immer nur Freunde geschaffen hat. Nach dem Yom Kippur-Krieg 1970 hat er als Sprecher (»Sprachrohr Israels«) der israelischen Delegation der Genfer Friedenskonferenz entscheidend mit dazu beigetragen, dass so etwas wie eine zaghafte Annäherung gegenüber anderen Nahoststaaten möglich wurde. Dass auch solche Bemühungen »jemals nicht vollendet« sein würden, bewegt ihn nicht nur seitenlang in seiner Autobiographie, sondern auch in seinem Alltag heute: er hat in der Stadt Herzlya bei Tel Aviv ein Institut gegründet, in dem er sehr erfolgreich einen trilateralen israelisch-palästinensisch-jordanischen Studiengang betreut.
Der Gedanke von Aussöhnung einmal nicht als Worthülse, sondern aktiv gelebt.
Wie nebenbei erfährt der Leser auf charmante, hintersinnige, oft sehr nachdenkliche – und  niemals belehrende Weise vieles über ein jüdisches Leben, das sich mit großer Liebe und kritischer Distanz mit der Welt auseinandersetzt, die »niemals vollendet ist«.
»Von all dem sind wir noch weit entfernt. So weit entfernt, dass ich mir Sorgen um die Zukunft Israels mache und mir sogar die Frage stelle, ob Israel langfristig gesehen als demokratischer Staat überlebensfähig ist. (…)  Solange die Palästinenser nicht in Würde leben können, solange ein palästinensisches Kind nicht die gleichen Chancen im Leben hat wie ein israelisches, werden wir hier nicht zur Ruhe kommen«, mahnt ein bewunderswert gradliniger Israeli.
Für mich die beste Autobiographie seit langem. Ein Lehrstück über Toleranz, über Antisemitismus und die Folgen – und über die »Zeit des Ringens« als »schönste Zeit des Lebens«, mit eines Tages (hoffentlich) erfüllten Zielen.

Bernd Havenstein
Avi Primor: »Nichts ist jemals vollendet«
Autobiographie
Köln: Quadriga Verlag, 2015
432 S., 22,99 Euro 

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