Annegret Held schreibt weiter an der Chronik ihrer Heimat

Im Westerwald pfiff auch der Wind so kalt

Sie geht rückwärts voran. Ihr letzter Roman »Apollonia«, eine Liebeserklärung an ihre Großmutter, spielte hauptsächlich im frühen 20. Jahrhundert. Der neue Roman, »Armut ist ein brennend Hemd«, im 19. Jahrhundert. Der nächste, der hoffentlich bald kommen wird, geht noch weiter zurück. So entsteht eine Chronik des Westerwaldes, Geschichten aus der Geschichte dieser immer armen Gegend. Es ist die Heimat der Annegret Held und die Heimat ihrer Vorfahren. Aus ihrem elenden Leben hat sie große Literatur gemacht.
Scholmerbach heißt jetzt der Ort des Geschehens, in einem »schlimmen Jahrhundert«, das 1806 beginnt, dem Jahr, in dem Scholmerbach über Nacht französisch wird. Für die Westerwälder ändert sich nicht viel. Weiterhin wurden »die Gebeine samt ihren Lebensgeschichten so schnell als möglich der Verrottung anheim gegeben. Da blieb nichts übrig, als hätte der Kirchhof das ganze Jahrhundert aufgefressen.« Annegret Held entreißt ein Dorf dem Vergessen. In ihrer Chronik entfaltet sie die Lebensgeschichten der Menschen. Da ist zum Beispiel die kleine Fine, die nachts mit ihrer ungeliebten Tante, einem echten Schreckgespenst, das Bett teilen und sich tagsüber um ihre vielen Geschwister kümmern muss. Not macht bekanntlich erfinderisch. Ihr Bruder Heinrich leidet unter seinem verschorften Grindkopf, das schmutzige Häubchen mit den »festgetrockneten bräunlichen Flecken« riecht auch noch abscheulich. Fine hatte gehört, dass getrocknete und gemahlene, mit Schmalz verschmierte Frösche, auf den Kopf gestrichen, Heilung bringen würden. Es ist nicht ganz einfach, dieses Wundermittel zu besorgen.
Der Roman wimmelt nur so von solchen, aberwitzigen Geschichten. Auch der Lehrer, der zwar schon Lesen und Schreiben kann, eigentlich aber Schweinehirt ist, weiß nicht einmal, wo Holland, das Traumland der Kinder liegt. Im Winter gibt es Unterricht, im Sommer geht es zur Feldarbeit. Später, mit einem neuen Lehrer,  sollen die Kinder auch im Winter unterrichtet werden und dann noch gewaschen und gekämmt in der Schule erscheinen. Die Scholmerbacher sind empört: »So ein Dolles, so ein Hollefernes! En bisjen Rotz hat doch noch keinen gestört!« Hunger ist ein ständiger Begleiter, als aber der viele Regen die gesamte Kartoffelernte verfaulen lässt, sagt Fines Sohn Matthes: »Eysch hab wat gelesen. Dat stand in den Intelligenz-Nachrichten! …Wat in den Nachrichten steht, dat stimmt!« Also werden die verfaulten Kartoffeln mit Milch, Gewürzen und Essig gekocht. Fines Bruder Heinrich versucht tapfer drei Löffel von dem grauen Brei zu essen. Wie es ihm danach ergeht, beschreibt Held drastisch in ihrer ganz speziellen kraftvollen und unverwechselbaren Sprache. Es wird viel gehungert, gelitten, aber auch gebetet. Die Westerwälder haben eine Riesenangst vorm Fegefeuer, der Hölle, der Strafe Gottes. Doch als der Winter wieder einmal besonders kalt und lang ist, werden die Toten in der hart gefrorenen Erde nicht tief genug begraben. Man ist schwach und faul dazu.  Das rächt sich schon bald. Als im Frühling die Erde bei einem starken Regen weggeschwemmt wird, »ragen aus den zerfallenen Särgen die Zipfel der Totenhemden, Ellen, Speichen und Handknochen…allüberall rächten sich die Toten in ihren zerfallenen Hochzeitsgewändern für die halbherzigen und kraftlosen Begräbnisse des Winters.« Die Revolution von 1848 geht auch an den Scholmerbachern  nicht spurlos vorbei.  Sie waren keine Untertanen mehr und für den Zehnten und die Steuern sollten die Adligen selbst auf den Äckern schuften gehen. In Aufruhrstimmung bewarfen sie den Förster mit Stöcken und Steinen, denn er hatte ihnen jahrelang verboten, im Wald zu jagen, nun jagten sie ihn selber fort. Sie packten auch den Gerichtsvollzieher und »tunkten ihn in Dellerschhannese Regentonne, schaufelten ihm vom Misthaufen eine ordentlich stinkende Gabel über und jagten ihn johlend mit Arschtritten davon … Einen Sommer lang waren sie vollkommen frei«.  In der Mitte des Jahrhunderts kommen fliegende Händler mit Marienbildchen und Versprechungen in ihr Dorf und locken die Mädchen nach Aachen, Amsterdam oder London. Auch Fine lässt sich schließlich überreden, ihre Tochter Bettchen mitgehen zu lassen, denn zu Hause fraßen sie »Brot aus klein gemahlenem Holz und Wasser«. Und der Theodor, in den sich Bettchen verliebt hatte, »hustete blutige Sprengel in sein Sacktuch. Er konnte kein Bettchen mehr über eine Schwelle tragen«. Zwölf Mädchen gingen mit und hofften auf ein leichteres Leben. In London werden sie geschminkt, mit prächtigen Kleidern ausstaffiert und sollen nun singen, tanzen und auch ein bisschen nett zu den Matrosen sein. Fine, die sich immer große Sorgen um die Tochter macht, sorgt dafür, dass sie nach Hause kommt. Aber Bettchen haben die Erfahrungen verändert. Ein Leben lang ist sie eher in sich gekehrt und bittet ihren Herrgott um Vergebung. Um das Leben dieser beiden Frauen herum, Fine und Bettchen, erzählt Annegret Held die Geschichte dieses Dorfes .Und es gibt viel zu erzählen. Doch als die kleine Annegret die Alten nach früher befragte, so sagten sie stets: »Es gab nichts, wir hatten nichts, nur Armut und Säuerei. Et gitt rein gar nichts zou verzählen«. Schön, dass Annegret Held daraus einen ergreifenden, witzig-tragischen, ja großen Roman gemacht hat.

Sigrid Lüdke-Haertel
Annegret Held: »Armut ist ein brennend Hemd«.
Roman. Köln:  Eichborn Verlag, 2015, 367 Seiten, 22 Euro

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